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Interview – Investitionen in sicherere Chemikalien

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Article Veröffentlicht 09.11.2023 Zuletzt geändert 16.11.2023
5 min read
Photo: © Philippe Pavans, Well with Nature /EEA
Gefährliche Chemikalien finden sich in allen Lebensbereichen. Wir sprachen mit Jerker Ligthart von ChemSec, einer schwedischen Nichtregierungsorganisation, die den Übergang zu einer Welt ohne gefährliche Chemikalien beschleunigen will, über sichere Alternativen, Chemikalien in einer Kreislaufwirtschaft und wie Wissen und Regulierung dazu beitragen können, die Entscheidungen von Verbrauchern und Investoren zu beeinflussen.

Was sind gefährliche Chemikalien?

Gefährliche Chemikalien sind Stoffe, die die Umwelt und/oder die menschliche Gesundheit schädigen. Sie umfassen ein breites Spektrum von leicht toxischen bis zu besonders besorgniserregenden Stoffen, die extrem giftig und sehr schwer abbaubar sind. „Synthetisch“ bedeutet nicht immer gesundheitsschädlich, „natürlich“ bedeutet nicht immer harmlos.

Obwohl es nicht immer einfach ist, eine bestimmte Chemikalie mit einer bestimmten Krankheit in Verbindung zu bringen, wissen wir, dass die Exposition gegenüber gefährlichen Chemikalien gesundheitliche Folgen haben kann – von Auswirkungen auf die Fortpflanzungsorgane bis hin zu bestimmten Krankheiten wie Diabetes. Die Auswirkungen auf die Natur sind ebenso besorgniserregend und können mit dem Verlust der biologischen Vielfalt in Verbindung gebracht werden.

Regulierungen suchen häufig nach direkten Verbindungen. Unser Verständnis dieser Zusammenhänge hat sich erheblich verbessert. Dank der Wissenschaft werden Expositionsgrenzwerte, die bis vor Kurzem als sicher galten – beispielsweise für endokrine Disruptoren (hormonell wirksame wie Bisphenol A und persistente Chemikalien wie PFAS (Per- und Polyfluoralkylsubstanzen) –, heute nicht mehr als sicher angesehen.

 

Ist es möglich, die Natur von diesen Chemikalien zu säubern?

Es kommt darauf an, was man unter Säubern versteht. In einigen Fällen ist es technisch möglich, die Umwelt bis zu einem gewissen Grad zu säubern (z. B. durch die Entfernung von Kunststoffen aus den Ozeanen), aber es wäre sehr kostspielig. In anderen Fällen ist dies nicht möglich. PFAS finden sich im Grundwasser, und wir können nicht das gesamte Grundwasser sanieren und gereinigt wieder auffüllen. Polychlorierte Biphenyle (PCB) haben sich im Sediment angesammelt. Sie daraus zu entfernen ist schwierig und würde den Schaden noch vergrößern.

Die Verwendung recycelter, gefährlicher Chemikalien in neuen Produkten würde weitere Schäden verursachen. Diese Stoffe müssen aus dem Verkehr gezogen werden, damit sie kein Risiko mehr darstellen.

 

Warum gibt es in unserer Umgebung so viele gefährliche Chemikalien?

Wir haben ein Produktionssystem aufgebaut, das nicht zwischen giftigen und ungefährlichen Chemikalien unterscheidet. Als wir begannen, synthetische Chemikalien in großem Maßstab herzustellen, war nicht geregelt, was man tun durfte und was nicht. Infolgedessen wurden die einfachsten und billigsten chemischen Stoffe hergestellt. Gefahren und Risiken wurden nicht in Betracht gezogen.

Heute ist das System so eingerichtet, dass wir von diesen gefährlichen Chemikalien abhängig sind. Und genau deshalb müssen wir das System so ändern, dass wir diese Chemikalien nicht mehr benötigen oder von ihnen abhängig sind. Es sollten Anreize geschaffen werden, die gefährlichen Stoffe nicht zu produzieren und stattdessen ihre sichereren Alternativen herzustellen.

 

Gibt es sichere Alternativen für alle gefährlichen Chemikalien?

Wir wollen, dass Chemikalien so unschädlich wie möglich sind, aber das mag nicht in allen Fällen möglich sein. Alternativen können sicher oder sicherer sein. Zum Beispiel gibt es einen Schaumbilder, der in der Gummisohle von Sportschuhen verwendet wird und sehr giftig ist. Natriumbicarbonat – Backpulver – ist eine sichere Alternative.

Für viele der Chemikalien, die wir heute verwenden, gibt es sicherere Alternativen, aber nicht für alle. Sicherere Alternativen werden nicht immer bevorzugt eingesetzt. Stellen Sie sich einen Hersteller vor, der jahrzehntelang eine Produktionslinie für eine bestimmte gefährliche Chemikalie perfektioniert hat. Die Einführung der sichereren Alternative ist anfangs kostspielig und erfordert neues Know-how. Damit werden die Hürden für eine Umstellung höher. Es ist auch eine Frage der Größenordnung. Bei hohen Produktionsvolumen sind die Stückkosten häufig geringer; dagegen dauert es einige Zeit, bis die Alternative Produktionsvorteile bringt.

Im öffentlichen und privaten Sektor laufen derzeit umfangreiche Forschungsarbeiten. Disruptive Technologien können neue Produktionsmethoden und neue Produkte hervorbringen, die den Markt komplett verändern können.

 

Können Chemikalien in einer Kreislaufwirtschaft recycelt werden?

Man kann viele einzelne Stoffe recyceln. Wenn Sie jedoch unverträgliche Materialien mischen, wie Kunststoff A und Kunststoff B, können diese nicht recycelt werden. Viele Artikel enthalten verschiedene Materialien, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Eigenschaften wie Härte oder Hitzebeständigkeit ausgewählt werden. Zum Beispiel können Teppichböden in der oberen Schicht, der unteren Schicht und dem Klebstoff unterschiedliche Kunststoffe enthalten.

Eine nachhaltige Gestaltung erfordert unter Umständen, dass die Materialien im Teppichboden kompatibel sind, aber der spezifische Klebstoff wird bei der Verlegung ausgewählt. In den meisten Fällen ist der Preis der bestimmende Faktor und nicht die Recyclingkompatibilität oder Trennmöglichkeit verschiedener Materialien.

 

Wie können wir ein sichereres chemisches System aufbauen?

Die Transparenz in der gesamten Lieferkette ist eine Grundvoraussetzung. Ein Hersteller produziert einen Stoff, der sodann an einen Weiterverabeiter und anschließend an eine Reihe anderer Hersteller weitergegeben wird. Das Endprodukt, das eine Kombination von Chemikalien enthält, wird schließlich zu einem Computer, einem Sofa oder einer Winterjacke.

Diese Informationen, an denen es derzeit mangelt, sollten den Verbrauchern zur Verfügung stehen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sachkundige Entscheidungen zu treffen. Die Menschen sollten wissen, ob eine Jacke PFAS enthält und dass PFAS ewig in der Umwelt verbleibt und Gesundheitsprobleme verursacht; vielleicht haben sie Zugang zu einer ungiftigen Alternative, auch wenn diese etwas weniger wasserfest ist und etwas mehr kostet. Wir wissen vielleicht, was nicht in dem Produkt enthalten ist, z. B. bei PFAS-freien Pfannen, aber wir wissen nicht, was darin enthalten ist.

Außerdem sollten die Regulierungsbehörden keine Angst haben, mutige, schnelle Maßnahmen zu ergreifen. Vorschriften und Investitionsentscheidungen müssen die Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Umwelt insgesamt berücksichtigen. Die tatsächlichen Kosten, die der Gesellschaft durch die Herstellung von PFAS und die entsprechende Verschmutzung entstehen, sind viel höher als der Preis, zu dem PFAS-haltige Produkte verkauft werden. Angesichts ihrer Auswirkungen sollten wir die Produktion der schädlichsten Stoffe einstellen. Auch das Regulierungssystem muss intelligent sein. So können beispielsweise einige besonders giftige Chemikalien nicht in Europa hergestellt, aber legal eingeführt werden.

Und durch die Herstellung sichererer Alternativen kann die europäische Industrie neue Arbeitsplätze schaffen und wachsen, während zugleich die Versorgungssicherheit verbessert wird.


Können Investitionen sicherere Chemikalien unterstützen?

Investitionen können sicherlich eine Rolle spielen. In den letzten Jahren haben wir bei ChemSec Instrumente entwickelt, die Anlegern helfen, sicherere und nachhaltige Alternativen zu finden. Wir befassen uns nicht mit den üblichen Umwelt-, Sozial- und Governance-Faktoren (ESG-Faktoren) der Unternehmen, sondern mit den tatsächlich produzierten Chemikalien. Viele Unternehmen mit hohem ESG-Rating könnten nach wie vor hochgefährliche und persistente Chemikalien herstellen.

Wir untersuchen das gesamte Produktportfolio eines Unternehmens, insbesondere die besorgniserregenden Stoffe. Aufgrund der von ihnen produzierten Chemikalien könnten Investitionen in diese Unternehmen als riskant angesehen werden, da sie zusätzlichen Vorschriften, dem Druck der Verbraucher oder sogar Rechtsstreitigkeiten, z. B. aufgrund von Giftunfällen, ausgesetzt sein könnten.

Die Frage lautet: Würden Anleger in Chemikalien wie PFAS investieren, wenn ihre Gesamtauswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt berücksichtigt werden?

 

 

Jerker Ligthart
Senior Chemicals Advisor bei ChemSec

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